Literaturnobelpreis 1906: Giosuè Carducci

Literaturnobelpreis 1906: Giosuè Carducci
Literaturnobelpreis 1906: Giosuè Carducci
 
Der italienische Schriftsteller erhielt den Nobelpreis für sein literaturkritisches und lyrisches Werk.
 
 
Giosuè Alessandro Giuseppe Carducci, * Valdicastello (bei Lucca) 27. 7. 1835, ✝ Bologna, 16. 2. 1907; ab 1853 Studium in Pisa, 1855 Promotion, ab 1856 Lehrer in San Miniato al Tedesco (bei Pisa), 1857 Veröffentlichung des ersten Gedichtbands, 1858 Entfernung aus dem Schuldienst, ab 1860 Professur an der Universität Bologna, von wo aus er eine einflussreiche Rolle als Dichter, Gelehrter und Literaturkritiker spielte.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Vom jungen Giosuè Carducci heißt es, er habe den Kindern des Dorfes Celle, wo der Vater als Gemeindearzt tätig war, das Lesen beigebracht und mit ihnen patriotische Lieder einstudiert, die auf dem Dorfplatz vorgetragen wurden — im Italien der Restauration nach den gescheiterten 1848er-Revolten (Risorgimento) ein heikles Unterfangen! Es scheint, als habe schon der Teenager geahnt, dass Literatur und Politik seinen Lebensweg wesentlich bestimmen sollten. In ein bürgerlich-republikanisches Elternhaus geboren, von einem Vater erzogen, dessen streitbarer Widerspruchsgeist im feudalen Großherzogtum Toskana mehrfach Arbeitsverbote und Wohnungswechsel nach sich zog, wuchs er mit den Schriften griechischer und lateinischer Klassiker, den italienischen Renaissanceepen, aber auch mit der jüngeren Literatur auf. War auch das väterliche Bildungsprogramm recht unsystematisch, so führte es doch dazu, dass der Junge 1849 erste Examina an einer ordentlichen Schule mit Bravour bestand.
 
Die Patres der Florentiner Scolopi-Schule erkannten das Talent ihres Zöglings und empfahlen ihn 1853 an die Eliteuniversität von Pisa, die er 1855 mit einem Doktordiplom verließ. Seine erste Anstellung fand Carducci als Rhetoriklehrer an einer Oberschule, doch Berichte über seinen Lebenswandel — er verspotte Polizisten und missachte die Fastenregeln — führten dazu, dass er 1858 wegen Unmoral und Gottlosigkeit aus dem Schuldienst entlassen wurde und bis zur Ernennung zum Professor in höchst ungesicherten Verhältnissen lebte.
 
 Erste literarische Veröffentlichungen
 
Im Jahr zuvor war Carduccis erster Gedichtband »Rime« (italienisch; Gedichte) erschienen, dessen Sonette, Balladen und Lobgesänge von Bewunderung für die Autoren seiner Zeit ebenso zeugen wie von glühendem Patriotismus im Zeichen der Ideale der Französischen Revolution. Literatur und Politik standen für ihn Zeit seines Lebens in engem Zusammenhang: Dichtung hat eine gesellschaftliche Funktion, die weit über bloße Sprach- oder Kulturförderung hinausgeht. In den folgenden Jahren begleitete Carduccis Lyrik die Ereignisse des Risorgimento, der Erringung der staatlichen Einheit Italiens, die erst 1871 endgültig vollendet war: Hymnen auf die italienischen Nationalhelden Giuseppe Garibaldi und Giuseppe Mazzini entstammen seiner Feder. Die Dichtungen aus der Zeit vor 1860 hat Carducci in der Sammlung »Juvenilia« (1880) zusammengefasst, in der er heroische Episoden der antiken Geschichte thematisiert. Auch finden sich hier Gedichte, die anlässlich von Tagesereignissen im Umfeld des Risorgimento entstanden waren.
 
 Satanische und »barbarische« Lyrik
 
»Heil dir, o Satanas / Kettenzerbrecher, /
 
gefangenen Denkens / Befreier, Rächer! /
 
Dir lass uns opfern, / zu dir uns beten: /
 
Du hast den Gott der / Priester zertreten!«
 
Mit diesen Worten endet Carduccis umstrittenstes Werk, die Hymne »An Satanas«, die er 1865 unter dem Pseudonym Enotrio Romano veröffentlichte und in der seine antiklerikale Grundhaltung aufs Deutlichste zu Tage tritt. Satan ist ein lebensfroher heidnischer Gott, dem Rationalität, Freiheit, Wissenschaft und Kunst heilig sind. Auf einer Lokomotive reitend zerschmettert er, gleichsam ein apokalyptischer Reiter des Fortschritts, die Mächte der Unterdrückung und des Aberglaubens. Die Polemiken, die dieser Text auslöste, sollten noch Jahre nach der Erstveröffentlichung andauern.
 
Hellenisches Ebenmaß und römische »virtus« bestimmen Carduccis Vorstellung einer als vorbildlich angesehenen Antike. Sie prägt seine Lyrik nicht nur thematisch, sondern auch formal. Das bekannteste Werk, »Odi barbare« (italienisch; Barbarische Oden, 1877-89), steht stellvertretend dafür, denn er wendet die Gesetze der antiken Metrik (mit ihren Betonungsregeln) auf die italienische Lyrik an (in der einzig die Anzahl der Silben je Verszeile ausschlaggebend ist) und schafft so eine neue Dichtungsform reimloser Strophen in Versen unterschiedlicher Länge. Eine derartige Mischung — so erklärt sich der Titel — wäre den Antiken unzivilisiert vorgekommen, doch sind Carduccis »barbarische« Formen in all ihrer Strenge eine wichtige Vorstufe zur Entstehung einer modernen Lyrik des freien Verses. Zudem erweiterte er die thematische Spannbreite der Poesie seiner Zeit dadurch, dass er nicht allein historisch-mythologische Stoffe behandelte: Eine der Oden ist einer Dampflokomotive gewidmet — frühes Zeugnis einer Technikbegeisterung, die erst nach Carduccis Tod mit dem Futurismus ihre volle literaturhistorische Wirkung entfalten sollte.
 
Die weitere Lyrik Carduccis wurde von den Zeitgenossen mit bewundernder Zustimmung aufgenommen, doch Werke wie »Levia gravia« (1868-71) oder »Giambi ed epodi« (italienisch; Jamben und Epochen, 1867-82) haben heute wegen ihrer Beziehungen zur Tagesaktualität, vorwiegend aber aufgrund der bisweilen aufdringlichen Rhetorik und des nationalistischen Pathos nicht mehr diese Bedeutung. Wohl aber lassen sich noch einige der »Rime nuove« (italienisch; Neue Gedichte, 1887-89), die die Schönheit einer sonnendurchfluteten klassischen Landschaft preisen, zu Carduccis bleibenden Werken zählen.
 
 Der Kritiker und Lehrer
 
Zwar hat Carducci den Nobelpreis »vor allem als eine Huldigung für die plastische Energie, die Frische des Stils und die lyrische Kraft, die seine poetischen Meisterwerke auszeichnen«, erhalten, aber auch »in Anerkennung seiner reichen Gelehrsamkeit und seiner kritischen Forschungen«, so der Text der Preisurkunde. Damit wird dem immerhin fast 45 Jahre dauernden Wirken des Hochschullehrers und Literaturwissenschaftlers Carducci Rechnung getragen. Die Ergebnisse seiner stilkritischen und literarhistorischen Forschungen (unter anderem zu Francesco Petrarca, Torquato Tasso, Giacomo Leopardi oder Giuseppe Parini) sind teilweise noch heute gültig; außerdem sind sie Dokumente des stets konsequenten Temperaments eines Gelehrten, der dem Schriftsteller als Seher und Prophet die Mission eines moralischen und politischen Leitbilds zusprach.
 
Carduccis Lyrik und seine kritischen Abhandlungen haben fast ein halbes Jahrhundert das italienische und europäische Kulturleben beeinflusst. Die Reise nach Stockholm war dem greisen »vate d'Italia« (Barden Italiens) nicht mehr möglich. Er nahm den Nobelpreis wenige Monate vor seinem Tod aus der Hand des schwedischen Botschafters entgegen.
 
H. Grote

Universal-Lexikon. 2012.

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